Interview mit Karsten Vollmar: „Schiedsrichterei ist eines der schönsten Hobbies!“

12. Juni 2023 · Top-News · von: mag

Karsten Vollmar (45) ist seit 1991 Schiedsrichter. Er leitete Spiele bis zur LOTTO Hessenliga und war Assistent in der damaligen Regionalliga. Zwischen 2000 und 2016 war er Lehrwart der Hersfeld-Rotenburger Schiedsrichter-Vereinigung, ab 2008 ist er zudem im Verbandsschiedsrichterausschuss in verschiedenen Funktionen tätig. Derzeit ist er als Beobachter auf Hessens Sportplätzen unterwegs. Der verheiratete zweifache Familienvater ist beruflich als stellvertretender Schulleiter in Bad Hersfeld tätig. Der HESSEN-FUSSBALL hat ihn vor dem Hintergrund von Gewalthandlungen gegen Unparteiische befragt.

Foto: Vollmar

Hallo Herr Vollmar, Sie sind im Verbandsschiedsrichterausschuss für soziale Angelegenheiten und Gewaltprävention verantwortlich. Was bedeutet das genau?
Im Kern kümmere ich mich in erster Linie um Schiedsrichter*innen, denen Gewalt oder andere schwerwiegende Angriffe zugestoßen sind. Das beinhaltet neben der persönlichen Ebene auch alle anderen Fragen, wie zum Beispiel Unterstützung bei der formalen Abarbeitung, Fragen des Rechtsschutzes, Rat bei Zivilklagen oder auch ganz einfach die Vermittlung zu Experten auf diesen Gebieten in und außerhalb der Verbandsstrukturen.  

Wie sieht generell der interne Ablauf aus, wenn es zu Gewaltvorfällen mit involvierten Unparteiischen kommt?
In der Regel erhalte ich vom zuständigen Kreisschiedsrichter-Obmann den Sonderbericht des Schiedsrichters oder eine Info über den Vorfall noch am Abend des Spiels oder spätestens am nächsten Tag. Wir koordinieren dann das weitere Vorgehen, wie Information an den Verband, die Schiedsrichterebenen, Presseanfragen usw. Zentral ist und bleibt aber für mich: Ich telefoniere mit den betroffenen Schiedsrichtern. Das ist der wesentliche Aspekt meines Jobs – und gleichzeitig auch der komplizierteste. Die Gespräche dauern zwischen fünf Minuten und einer Stunde und sind mitunter auch sehr emotional.

Welche Erfahrungen haben Sie im Gespräch mit den Betroffenen gesammelt?
Es ist paradox: Einen Schiedsrichter, der geschlagen, bespuckt oder der beispielsweise rassistisch beleidigt wurde, interessiert nicht in erster Linie seine körperliche Blessur, die Wortwahl oder die Drohung, auch wenn das natürlich alleine schon schwerwiegend ist und in einigen Fällen sogar zu Krankenhausaufenthalten führte. Ich habe aber oft festgestellt, dass vor allem die Erfahrung der Demütigung und der persönlichen Entwürdigung im Zentrum des Empfindens steht. Die Schiedsrichter fühlen sich bloßgestellt und hilflos, quasi in ihrem Innersten gekränkt: Sie fahren raus auf den Platz und möchten ein liebgewordenes Hobby ausüben – und dabei werden sie geschlagen oder angegriffen. Das ist der eigentliche Skandal für unsere Schiedsrichter*innen.

Haben Sie sich auch um den jungen Schiedsrichter der Vereinigung Frankfurt gekümmert, der am 1. Mai verbal massiv bedroht wurde?
Ja natürlich. Obwohl die mediale Verbreitung des Videos schon überall zu sehen war, führten wir ein erstaunlich ruhiges und gelassenes Gespräch. Ich merkte schnell, dass er einerseits dankbar für den Anruf war, andererseits aber auch klar und gefestigt wirkte. Die Frage „Soll ich die Pfeife an den Nagel hängen“ (die oft in anderen Gesprächen gestellt wurde) war bei ihm zum Glück kein Thema. Ich weiß aber auch: Das kann einige Zeit später wieder hochkommen und mein Anruf ist nur Teil einer Unterstützung, die vor allem von den sehr gut arbeitenden Kreisschiedsrichter-Ausschüssen vor Ort geleistet wird.

Die Schiedsrichter*innen als Opfer von Gewaltvorfällen stehen medial oft stark im Fokus. Ist das eine zusätzliche Belastung?
Definitiv ist das eine Belastung – außer man will sich selbst in den Nachrichten sehen. Für die betroffenen Schiedsrichter kann ich sagen: Das wollte und will keiner!

Welche Vorzüge der Schiedsrichter*innen würden Sie gerne lieber in den Medien präsentieren?
Schiedsrichterei ist eines der schönsten Hobbies! Die Prägung der eigenen Persönlichkeit, Übernahme von Verantwortung, sportliche Betätigung und Teil der Fußballfamilie zu sein und seinen eigenen Beitrag in diesem Sport zu leisten – das sind die Dinge, die unsere Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter ausmachen. Das ist es, was sie wollen! Natürlich gibt es dabei schlechte Tage und auch schlechte Leistungen – bei wem ist das nicht so, auch bei Spielern!? Aber es überwiegt doch das Gefühl: Ich habe hier ein Spiel geleitet, etwas geleistet und das ist ein tolles Gefühl.

Wo sehen Sie die Gründe für Gewaltvorfälle gegen Schiedsrichter*innen?
Zunächst ist das Nebeneinander vieler Faktoren zu nennen: Gesellschaftliche Veränderungen, Zunahme von Gewaltbereitschaft, Enthemmung von Fußballern genauso wie Zuschauern und eine Verschiebung der Grenzen des Anstands. Das früher „Unsagbare“ wird nun sagbar, vor allem die Triebfeder „soziale Medien“, in denen man ungehemmt und meist anonym seinen Frust rauslassen kann, trägt dazu bei und findet am Sportplatz bei einigen ein Ventil, wo aus Worten dann leider Taten werden. Diese Begründungen alleine reichen aber nicht – denn dann wäre es im Handball oder Basketball genauso schlimm. Für mich kommen zwei weitere Faktoren hinzu: Die Glaskugel Bundesliga beziehungsweise der Profifußball generell geben derzeit kein gutes Beispiel an persönlichem Respekt voreinander und vor allem gegenüber Schiedsrichtern ab. Daraus folgt zweitens: Die Kernrolle des Schiedsrichters, nämlich Respektsinstanz und Letztentscheider auf dem Platz zu sein, ist geschmolzen und seine Schutzzone damit weg. Das ist die wesentliche Voraussetzung für Angriffe auf unsere Schiedsrichter.

Haben diese in Quantität und Ausprägung zugenommen?
Quantitativ würde ich das nicht unbedingt so sagen, das ist regional unterschiedlich. Was mir Sorge bereitet, ist die qualitative Zunahme, das heißt die Verrohung nimmt stetig weiter zu, Hemmschwellen sinken, Zivilcourage auch auf dem Sportplatz ist schwer zu finden. Wer sagt denn heute noch zu dem pöbelnden Zuschauer nebenan, er soll endlich ruhig sein oder gehen? Das gleiche erleben wir auch bei Rettungskräften oder anderen Helfern – auch diesen gegenüber hat sich eine zwischenmenschliche Gleichgültigkeit breit gemacht, die gefährlich ist.

Machen Sie in ihrem hauptamtlichen Beruf als stellvertretender Schulleiter auch die Erfahrung von steigender körperlicher und verbaler Gewalt?
Jeder macht diese Erfahrungen in allen Berufen – Schule hat aber einen speziellen Charakter: Wir haben es hier mit Kindern und Heranwachsenden zu tun. Damit will ich nicht sagen, Gewalt gehöre zum Erwachsenwerden dazu, das ist damit sicher nicht per se entschuldigt und bleibt ein „no go“! Aber: Am Sportplatz sind es in den meisten Fällen Erwachsene, die es besser wissen müssen als Kinder, und die als Erwachsene auch Vorbild sein sollten – und dennoch zu sportlichen Straftätern werden, wenn Sie schlagen, beleidigen oder Spielabbrüche provozieren.

Wie könnte man dieses Problem eindämmen oder lösen?
Wir können uns einer Lösung gegenwärtig leider nur annähern. Das muss mit systematischen Präventions- und Schulungsmaßnahmen einerseits einhergehen. Andererseits ist eine konsequente Strafverfolgung elementar, damit man die Täter schnell und spürbar im Rahmen aller zur Verfügung stehenden Mittel bestraft.  Aber auch wir schulen unsere Schiedsrichter*innen: Deeskalationstrainings, Rollenspiele, Gewaltprävention. Das alles ist wichtig. Letztlich ist der Einzelne gefragt: Zivilcourage wird zum Schlüsselbegriff und Lösungsansatz gleichermaßen. 

Wie bewerten Sie die bestehenden Maßnahmen des HFV, wie zum Beispiel die Grünberger Erklärung, die Einführung des Trainerpasses, Kurzschulungen, Workshops, Mediationen, Konflikttrainings und die Installierung des HFV-Sportgerichts?
All diese Maßnahmen sind wichtig! Sie zeigen, dass der Verband im Bereich der Prävention, aber auch der Strafverfolgung Vieles macht und seine Unparteiischen schützen will. Das ist ein wichtiges Zeichen! Diese Tatsache zeigt aber auch bei allen Bemühungen, dass wir mit all den Maßnahmen nicht in die Köpfe aller Spieler, Zuschauer und so weiter vordringen. Das gelingt nur, wenn in den Vereinen und Mannschaften diejenigen keinen Platz haben, die zu Gewalt, Aggressionen und Angriffen auf andere, auch Schiedsrichter, neigen. Das ist die Aufgabe aller am Fußball Beteiligten – das erfordert Mut, der sich aber lohnt.